Paris

Paris

Nach einem turbulenten vierten Jahresquartal in 2016, mit insgesamt drei Wochen Aufenthalt in London und sechs in Tokio, kam es nun zu einem weiteren Standortwechsel: Paris war die dritte Weltmetropole, in der ich nun binnen sechs Monaten arbeiten sollte. Genauer gesagt waren wir mit dem Auftraggeber in Boulogne-Billancourt. Ein Ort, der streng genommen gar nicht mehr zu Paris zählt, sich aber genauso anfühlt – grenzt er doch im Südwesten nahtlos an die Hauptstadt und wird auch von jedem Pariser als 21. Arrondissement (Bezirk) bezeichnet. Was ich erst dort realisierte, war der glückliche Umstand, dass sich sowohl der Prinzenpark als auch das Stade Jean Bouin eben dort, beziehungsweise an der Grenze zu Paris, befinden. So war es mir möglich, alle Spiele von PSG und Red Star fußläufig zu erreichen. Doch eigentlich war Paris für mich nie eine Stadt, die ich erwähnen würde, sobald mich jemand fragt, wo ich mal wohnen möchte. Ausschlaggebend dafür war sicherlich nicht nur die Entscheidung, damals in der Schule Russisch anstatt Französisch als zweite Fremdsprache zu wählen, sondern vor allem der bekannte ortsansässige Fußballclub, der einst seine Ultras aus dem Stadion schmiss, weil sich beide Fankurven bis zum Tod bekämpften. Dazu ein katarischer Investor, der wenig später tatsächlich dazu bereit war, 222.000.000 (in Worten: Zweihundertzweiundzwanzig Millionen) Euro für einen Fußballspieler auszugeben.

Red Star FC gegen
Racing Club de Lens – 2:3
Stade Jean Bouin
10874 Zuschauer (500 Gäste)
Ligue 2
03. März 2017

Schon vor meiner Zeit in Paris war mir ziemlich klar, dass Red Star wohl der mir sympathischste aller dortigen Vereine sein würde. Die 11Freunde hatte mir eines Tages mal eine Mini-Doku in die Timeline gespült, in der man einen kleinen Einblick vom dortigen Vereinsleben bekommen konnte: die klassische Story vom Arbeiterverein, der friedlich kämpfend neben dem großen Wirtschaftswunder PSG koexistiert. Der Aufstieg in die zweite französische Liga im Jahre 2015 glich einer Sensation, hatte aber leider auch einen gewaltigen Haken: die Heimspiele durften nun nicht mehr im angestammten Stade de Paris (oder wie es der Volksmund nennt: das Stade Bauer, benannt nach der anliegende Rue du Docteur Bauer) ausgetragen werden. Nach einem Sturm im Jahre 1999 verpasste man die notwendigen Renovierungsarbeiten und musste nun hinnehmen, dass die örtlichen Gegebenheiten den Standards der Ligue 2 nicht genügen. Traurig.
Und so zog man in der ersten Zweitliga-Saison ernsthaft in das gut 100 Kilometer nördlich liegende Stade Pierre Brisson. Und trotz eines guten fünften Platzes in der Liga verbesserte sich die Lage nicht. Während das Bauer ein nach Blut, Schweiß und Tränen riechender Vorzeigeground ist, mimt die diesjährige Alternative, das Stade Jean-Bouin das absolute Gegenteil. Ein komplett bestuhltes Rugbystadion mit elektronischem Einlass und integriertem Paris Saint-Germain Flagship Store – denn der Prinzenpark liegt direkt daneben, keine 50 Meter entfernt…
Dementsprechend wenig übel konnte ich es den Anhängern nehmen, dass sie all ihre Spiele hier mehr oder minder boykottierten und deshalb nur unorganisiert ein paar Schlachtrufe loswurden.
Doch während ich mal wieder nichts ahnend das Büro verließ und langsam zum Stadion schlenderte, merkte ich, dass heute etwas anders war. Der Bereich hinterm Gästeblock war ungewöhnlich belebt und auch der ein oder andere Böller war zu hören. Nanu? Auf meinen Stammplatz angekommen checkte ich mittels Stadion-Wifi die Tabelle und schon wurde es mir klar: der ehemalige UI Cup Sieger aus Lens steht richtig gut da und muss hier heute gewinnen, um weiter im Aufstiegsrennen zu bleiben. Und so wurde ich (und vermutlich auch einige andere hier) das erste mal Zeuge eines proppevollen Gästeblocks, der zu Beginn glatt ein paar Rauchtöpfe anschmiss. Stark! Begleitet von der Toten Hosen-Version von “You’ll never walk alone” liefen beide Mannschaften auf das in rot und gelb eingenebelte Feld. Durch die anhaltend-lautstarke Unterstützung der Gäste fühlten sich endlich auch die Toplads auf der “Heim”-Seite verpflichtet, mal ordentlich gegen zu steuern und so wurden neben dem Klassiker “Allez Red Star” einige Melodien aus dem Sankt Pauli Repertoire geträllert. Während man sich also audiovisuell eher von linken Szenen inspirieren ließ, war es optisch definitiv die Insel, die die Jungs mit ihren Parkas einkleidete. Der perfekte Mix möchte man meinen…
Die Jungs auf dem Feld ließen sich richtig schön anstecken und lieferten ordentlich ab. Es ging nicht nur um Lens’ potenziellen Aufstieg, sondern auch um Red Stars potenziellen Abstieg. Die grün-weißen spielten jedoch stark auf und gingen erst mit 1:0 und dann in der zweiten Halbzeit trotz zwischenzeitlichem Ausgleich mit 2:1 in Führung – 10 Minuten standen danach noch auf der Uhr. Die Truppe gefiel mir sehr, da man den Legendenstatus einiger Spieler förmlich spüren konnte. Nur leider schafften sie es nicht, das Ding nach Hause zu bringen. Lens glich nicht nur aus, sondern holte hier tatsächlich noch die drei Punkte. Mit Treffern in der 87. und 92. Minute ließen sie ihren Anhang mächtig ausrasten und weiter vom Aufstieg träumen, während man Red Star endgültig auf die Abstiegsplätze verwies. Wer weiß, wie sauer die Parisienne am Ende wirklich wahren. Die beklatschten ihre Mannschaft nämlich hochachtungsvoll und packten in aller Seelenruhe ihren “Le Red Star c’est Bauer”-Banner ein, der in der gesamten Saison anstelle sämtlicher Gruppenfahnen hing. Sinngemäß kann man es wohl am besten mit “Red Star gehört ins Bauer” übersetzen.
Die absolute Bestätigung meiner Sympathien gegenüber diesem Verein fand ich im Qualitätsmedium Vice, in dem sich der Frontsänger der Band “8°6 Crew” als wahrer Red Star Fan outete. Die Jungs bieten feinsten französischen Skinhead Reggae und sind neben “Lion’s Law” meine absoluten Topfavoriten der hiesigen Musiklandschaft.

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